Thanatos und Eros, die griechischen Götter des Todes und der Liebe, gehören in den Sagen zusammen. Und auch in der Neuzeit wurden die beiden Kräfte oder “Triebe” miteinander in Verbindung gebracht, wie zum Beispiel von Sigmund Freud. In der französischen Sprache wird der Orgasmus “la petite mort” genannt, der kleine Tod. Und doch hat sich diese Verbindung in unserer Gesellschaft zu einem Tabu im Tabu entwickelt. Es scheint uns schwer genug zu fallen, der Trauer einen Platz in unserem Leben und unseren Gesprächen einzuräumen. Wenn sie körperlich daherkommt, und dann auch noch gepaart mit sexuellen Bedürfnissen, trauen sich viele weder von ihr zu erzählen noch nach ihr zu fragen. Mit den Stimmen in diesem Beitrag möchten wir die Vielfältigkeit dieser Bedürfnisse und Erfahrungen sichtbar machen und dazu ermutigen, über körperliche Trauer zu sprechen.
Ich habe diese Berührungen für immer abgespeichert. (Noah)
„Ich kann immer noch abrufen, wie sich die Haut an ihrem Hals anfühlte, an ihrem Rücken, an ihren Armen. Ich habe diese Berührungen für immer abgespeichert. Wir passten wie zwei Puzzleteile zusammen. Da war so viel Vertrauen, so viel Liebe, die perfekte Ergänzung. Es war nie ungemütlich, es gab keine Verlegenheit. Wir haben uns wie eine Person angefühlt. Wie ein Fluss, der zusammenfließt. Als sie nicht mehr da war, hatte ich körperlichen Entzug. Mir war die ganze Zeit schlecht. Ich habe mich gefühlt, als hätte man mir ein Bein abgehackt, als hätte man mir einen Teil von mir genommen. Wir haben uns vervollständigt. Ohne sie war ich nicht mehr komplett.”
Oft hat es etwas Selbstverurteilung zu tun. Oder eben mit Selbsterlaubnis (Anne Bielemeier, Life- und Trauercoach)
„Mein Mann erhielt die Diagnose, da war unser Sohn sechs Wochen alt. An Weihnachten desselben Jahres war er schon im Krankenhaus. Zum Sterben haben sie ihn nach Hause gelassen. An jedem Tag nach der Diagnose habe ich getrauert, auch körperlich. Ich habe ihn bis zum Schluss begleitet. Es fühlte sich an wie mit dem Tod unter einer Decke. Das habe ich auch als bereichernd empfunden. Der größte Kummer meines Mannes war, uns zurückzulassen. Ich habe ihm versprochen, dass ich alles dafür geben werde, dass wir wieder glücklich werden. Ich habe mir das selbst erlaubt, wieder glücklich zu sein. Wir können Geist und Körper nicht trennen. Viele fühlen sich in ihrer Trauer von der Gesellschaft verurteilt. Oft hat es aber auch etwas mit Selbstverurteilung zu tun. Oder eben mit Selbsterlaubnis, die Dinge zu tun, die einem guttun. Meine Trauer war nur so lange ein Hindernis für mich, wie ich und die Gesellschaft sie dazu gemacht haben. Durch körperliche Aktivität habe ich mir Freiräume geschaffen, eine Pause von der Trauer. Ich schöpfte Kraft, hatte ein Ventil. Das konnte und kann immer noch Laufen, Reiten, Tanzen oder eben Sex sein. Die Hauptsache dabei ist, dass es mich die Zeit vergessen lässt. Mittlerweile würde ich sogar sagen, der Tod hat mich zum Leben erweckt. Er hat mich gelehrt, das Leben zu genießen.“
Zum Sterben haben sie ihn nach Hause gelassen.
Sie sind Spiegel füreinander und brauchen nicht viele Worte (Daniela von TrostHelden)
„Trauernde mit ähnlichen Schicksalen haben in unseren Workshops oft gut zueinander gefunden, konnten sich trösten und gegenseitig heilen. Sie waren ein Spiegel füreinander und brauchten nicht viele Worte, um sich einander zu erklären. So sind auch viele schöne neue Verbindungen zustande gekommen. Wir helfen mit unserer Plattform, dass sich diese Menschen treffen. Mithilfe von Fragebögen und Algorithmen vermitteln wir sogenannte Trostpartner und Trostpartnerinnen, die etwas ähnliches erlebt haben wie man selbst.“
Ein Jahr nach dem Tod meines Mannes habe ich mich erstmal in eine Frau verliebt. (Brenda Strohmaier, Autorin & Sex-Reporterin)
„Sex und Trauer haben gemein, dass es eine ziemlich rigide Vorstellung darüber gibt, wie die Sache abzulaufen hat. Trauer heißt demnach automatisch, depressiv und einsam zu sein, und Sex muss geil sein. Dass ein trauriger Mensch Berührung sucht, ist nicht vorgesehen und gilt als Verrat am Ex-Partner. Ich habe erst ein Witwenbuch geschrieben, um mal einen anderen Ton in die Sache zu bringen, jetzt organisiere und moderiere ich Sex-Education-Veranstaltungen, um die Leute zu ermuntern, ehrlicher über Sexualität zu reden. Mir berichten nun Menschen von ihrer Erleichterung, dass der lange erkrankte Stiefvater gestorben ist. Und ich höre von vielen Leuten, dass sie keine Lust haben auf den Sex, den sie bislang mit ihrem Partner praktizieren. Ein Jahr nach dem Tod meines Mannes habe ich mich erstmal in eine Frau verliebt. Das war sehr hilfreich, da kam ich gar nicht auf die Idee, alt und neu ständig zu vergleichen.“
Als ich mit ihm geschlafen habe, fühlte ich mich verletzlich und ausgesetzt. (Salomé Balthus, Autorin & Escort)
„Als mein Vater starb, arbeitete ich bereits als Escort. Ich habe nach seinem Tod, und auch während er im Sterben lag, nur kurz pausiert. Danach musste ich aus Geldnöten weitermachen. Da über den Tod meines Vaters in den Medien berichtet wurde, geschah es, dass einige Kunden (sicher wohlmeinend) mir während des Dates ihr Beileid aussprachen. Ich empfand das immer als extrem unangenehm und grenzverletzend, konnte aber schlecht etwas dagegen tun. Ohne es zu beabsichtigten (oder doch?), haben diese Kunden mich damit aus der schützenden professionellen Rolle herausgeholt. Und sich ein Stück von meinem privaten Selbst erschlichen, das ich einem Kunden niemals gegeben hätte. Als ich danach mit diesem Kunden geschlafen habe, fühlte ich mich verletzlich und ausgesetzt.“
Wir denken: In der Traurigkeit darf Trauer sein, vielleicht auch Wut. Aber keine Lust! (Peggy Steinhauser, Leiterin vom Hamburg Leuchtfeuer Lotsenhaus, im Gespräch mit ZEIT)
„Wir haben oft sehr klischeehafte Vorstellungen davon, wie Trauer auszusehen hat. Da darf Traurigkeit sein, vielleicht auch Wut. Aber keine Lust! Wir möchten, dass mehr Austausch darüber entsteht, was ein trauernder Mensch jeweils erlebt und braucht. Das ist sehr individuell. Für die Trauernden ist das Thema mitunter schambehaftet, weil sie denken, sie dürften nach dem Verlust ihrer großen Liebe gar nicht so empfinden. Und dann kommt noch dazu, dass Freundinnen, Kollegen oder Nachbarn noch eins draufgeben, indem sie signalisieren, dass sie das unangemessen finden. So nach dem Motto: Das kann keine große Liebe gewesen sein, wenn jemand so kurz nach dem Tod des Partners Nähe zu einem anderen sucht.“
Es können gemeinsame, ohne weiteres auch einsame Lüste sein (Wilhelm Schmid, Philosoph, in Psychologie Heute)
„Trostreich sind zuallererst sinnliche Erfahrungen, die sehr viel Sinn bereithalten und Energien in Fluss bringen. Es können gemeinsame, ohne weiteres auch einsame Lüste sein, denn nicht immer ist dieser Trost an Beziehungen zu anderen gebunden. Starken Trost gewähren jedoch die erotischen Lüste, die so intensiv sein können, dass sie eine bedrückende Situation völlig vergessen machen. Erotik ist die intime Erfahrung der Fülle des Lebens, die weltliche Erlösung von allem Kummer und von allen Problemen der Welt. Daher liegt die Versuchung nahe, sich ‘mit jemandem zu trösten’, und dies nicht nur, aber auch in der Form von Sex: Sex tröstet. Mag sein, dass dieser Trost zeitlich begrenzt ist, da alle Sinnlichkeit vergänglich ist und Gefühle wankelmütig sind. Aber das Einssein mit einem anderen befreit den Einzelnen für einen Moment aus dem Gefängnis seiner Begrenztheit und Endlichkeit, so dass es ihm möglich wird, im vollen Bewusstsein des Todes das Leben zu lieben.“
Tod und Sex sind Zustände, die mit dem normalen Leben nichts zu tun haben. (Caroline Kraft und Susann Brückner im Podcast „endlich. Wir reden über den Tod“)
„Nur der Moment zählt. Vergangenheit und Zukunft spielen keine Rolle. Wir sind ungeschützt, stehen an einem Abgrund, gehen in den freien Fall, fallen in dunkle Tiefen oder fühlen uns, als würden wir fliegen. Es geht auch um Kontrollverlust. Das kann auch wie eine Katharsis sein, zum Beispiel wenn man beim Orgasmus weint und sich dem Verstorbenen in dem Moment sehr nahe fühlt. Vielleicht muss man deswegen weinen, weil man gerade so sehr in der Welt und im Leben ist. Es wird einem bewusst, was verloren wurde. Selbstbefriedigung kann daher auch eine Trauerbewältigungsstrategie sein, weil sie die Stimmung hebt und einen gut schlafen lässt. Und sie legt den Fokus auf einen selbst und nicht auf die nächste Beziehung. Eines steht fest: Alles ist möglich. Ob du nun einen verstärkten Sex Drive hast in der Trauer oder dir nie wieder Sex vorstellen kannst: Du sollst darüber sprechen dürfen.“
Muss man sich an Regeln halten, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt? (Mechthild Schroeter-Rupieper, LAVIA Familientrauerbegleitung, auf Facebook)
„Eine trauernde Mutter erzählt im Seminar, dass sie und ihr Mann an dem Abend, nachdem ihr Kind am Mittag tödlich verunglückt war, unbändige Lust auf Sex hatten. Sie verboten es sich jedoch, weil sie dachten: ,Das geht doch nicht! Wie könnten wir das machen, da, wo unser Kind doch tot ist?` Im Trauerbegleitungsgespräch einigte sich das Ehepaar darauf, ab nun jedoch das zu tun, was ihnen gut tun würde … und sie wollten sich nicht an ‘Regeln’ halten, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. … wo findet man denn eine Vorschrift, in der steht, ob oder ab wann man wieder Sexualität leben darf, nachdem ein naher Mensch gestorben ist? In einer Trauergruppe fragt eine Witwe die anderen Teilnehmerinnen, ob schon jemand Erfahrung mit einem Callboy hatte. Sie mag derzeit keinen festen Partner haben, ihr Mann ist noch nicht so lange tot. Aber sie vermisst Nähe, Zärtlichkeit. Einen Callboy hatte sie noch niemals eingeladen, es gab, solange ihr Mann lebte, bisher noch keinen Grund dafür. Und jetzt? Wäre das nicht eine gute vorübergehende Lösung? Nicht allen Trauernden geht es so, dass Sexualität für sie ein Thema in der schweren Zeit ist. Und auch das ist normal, so wie es das andere auch ist. Trauer ist oft ein Tabu-Thema. Sex ist es oft auch, zumindest, wenn es ganz persönlich wird. An wem oder was können sich junge bis alte Menschen orientieren, wenn es ihr Thema in und außerhalb von Krisensituationen ist? Wo werden Erfahrungen ausgetauscht, ohne dass es frivol wirkt, ohne dass man das Gefühl hat, man würde sich outen? Oder müsse sich schämen? Ich finde, dass Trauergruppen auch für dieses Thema einen guten Ort bieten dürfen. In allen Regenbogenfarben. Oder?“
Niemand sollte sich mit seinen körperlichen Bedürfnissen allein fühlen in der Trauer. Lass uns darüber sprechen!
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– Buchtipp: „Leidfaden: Let’s talk about sex“
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