• Interview

Warum Bestattung auch etwas mit Heimat zu tun hat

Anjuli Aggarwal über kulturelle Unterschiede im Umgang mit dem Tod und darüber, welche gesellschaftspolitischen Fragen die Bestattungsbranche sich widmen sollte.

Im Gespräch mit Anjuli Aggarwal.

Wieso beschäftigst du dich so intensiv mit Bestattungen?

Erstmal aus persönlichen Gründen. Die Bestattung meiner deutschen Großeltern habe ich früh erlebt. Ich war aber total neugierig, wollte unbedingt zur Aufbahrung meines Opas auf dem Friedhof, doch als Kind durfte ich nicht und wurde abgeschirmt. Auch beim Tod meiner deutschen Oma gab es viele Berührungsängste, diesmal meinerseits. Ich fragte meine Mutter, ob ich sie anfassen dürfe – meine eigene Großmutter! Das zeigt einem, wie verunsichernd dieser erste Kontakt mit dem Tod war, in diesem Krankenhaus, mit dem Bett, das schnellstmöglich geräumt werden musste. Und dann habe ich sie erst bei der Bestattung wiedergesehen und mich gefragt: Wo war die dazwischen?

Im Gegensatz dazu war es bei der Bestattung deiner indischen Großeltern eher schwierig, Abstand zu halten.

Die Mutter meines Vaters war überraschend bei einer Operation verstorben, ich kam so schnell ich konnte mit dem Flieger nach Delhi. Gerade noch rechtzeitig, um das Ende des Verbrennungsrituals mitzuerleben. Als wir morgens an der Stätte des Scheiterhaufens (dem Ghat) ankamen, hat die Asche teilweise noch gebrannt. Es musste alles so schnell gehen, da im hinduistischen Glauben die Seele innerhalb von 24 Stunden von ihrem irdischen Körper erlöst werden muss. Es war ein Pandit, also eine Art Priester, anwesend, der meinem Vater erklärte, in welcher Reihenfolge und wie genau er nun die Bestattungsrituale zu vollziehen habe. Das ist wichtig, damit die Seele der verstorbenen Person ihren Weg ins nächste Leben findet. Ich kannte keines dieser Rituale, und meinem Vater ging es genauso. Meine Cousins und Cousinen wurden aufgefordert, die Knochen meiner Großmutter aus der Asche heraus zu sammeln. Ich habe dabei nur zugeschaut. Danach wurden die Knochen in eine Schale mit Milch gelegt, und mein Vater musste sie mit seinen Händen waschen. Für ihn war das sehr schwierig. Er hatte sie ja zuvor gar nicht mehr gesehen!  Die Überreste meiner Großmutter bekamen wir dann in einer Tüte mit, um sie dem heiligen Wasser im Fluss Ganga zu übergeben.

Ich hatte das Gefühl, dass niemand von uns richtig vorbereitet war. 

Das klingt schon alles sehr schwer auszuhalten. 

So war es auch. Aber es gab auch tröstliche Momente. Wir sind alle zusammen auf ein Boot gestiegen, um die Asche zu verstreuen. Das war todtraurig, aber auch wunderschön. Danach haben wir als Familie Essen eingekauft und an arme Menschen gegeben. Das war für uns, wie ins Leben zurückzukommen. Und wir waren danach noch zwei Wochen in der Familie zusammen, um gemeinsam zu trauern – sehr besonders für uns alle, da wir sonst in ganz Indien und Europa verstreut sind.

Wie habt ihr diese Erfahrung in der Familie verarbeitet?

Für uns war es schon sehr schwer. Mein Vater ist seit 40 Jahren in Deutschland und hatte noch keine Bestattung in Indien miterlebt. Und dann war seine erste auch noch die seiner Mutter, die für ihn auch seine Heimat war. Seitdem ist er noch viel stärker zwischen den Welten verloren, habe ich den Eindruck. Da ich Einzelkind bin, spüre ich eine große Verantwortung, diesem rituellen Unwissen, wie ich es in meiner Forschung nenne, auf den Grund zu gehen, so viel wie möglich zu lernen und aufzuklären, vor allem, weil es in Deutschland extrem schwierig ist, überhaupt hinduistisch bestattet zu werden. 

Woran liegt das?

Die Rituale, wie wir sie in Delhi durchgeführt haben, sind in deutschen Krematorien kaum möglich, ebenso Bestattungen innerhalb von 24 Stunden. Zudem ist es hierzulande verboten, Totenasche in Flüssen zu verstreuen. So ist es für die hinduistische Seele so gut wie unmöglich, über eine Bestattung in Deutschland gut ins nächste Leben zu kommen. Deswegen leiden Hindus hier auch immens unter der Verantwortung, ihre Toten gut zu bestatten. Ein Mann meinte in einem Interview zu mir, dass es sich für viele Hindus wie eine Strafe anfühle, in Deutschland zu sterben. 

Ich muss zugeben, dass ich bis zu deinem Vortrag auch sehr wenig über hinduistische Bestattungen in Deutschland wusste. Wie ist denn der Status Quo? Gibt es auch ermutigende Entwicklungen?

Die größte hinduistische Community in Deutschland ist die tamilische Diaspora, die durch die Erfahrung des Genozids und Vertreibung durch die sri-lankische Regierung einen großen Zusammenhalt und die meisten Tempel gebaut hat. In Hamm gibt es den größten hinduistischen Tempel und mittlerweile sogar ein eigenes Grabfeld. In vielen Bestattungspraktiken sind nicht nur religiöse, sondern vor allem ethnische und regionale Vorstellungen wichtig. Es wird immer mehr über Fragen gesprochen, die mich auch interessieren: Was ist, wenn Menschen nicht im Heimatland bestattet werden? Was ist mit Menschen, die gar nicht rücküberführt werden können oder dürfen aus politischen Gründen? Meine Familie hat das Privileg, dass wir jederzeit nach Indien zu unserer Familie können. Das gilt für viele Geflüchtete zum Beispiel nicht. Selbst nach dem Tod ist es für sie oft unmöglich, überführt zu werden und sich mit den Elementen zu vereinen, die man ein Leben lang missen musste. Religionen sind dynamische und lebendige Systeme, die sich ständig weiterentwickeln und an die sozialen, kulturellen und historischen Kontexte anpassen, in denen sie praktiziert werden. Es gibt oft signifikante Unterschiede zwischen den religiösen Schriften und der tatsächlichen Praxis der Gläubigen.  Ich habe in der Schweiz einen progressiven hinduistischen Priester kennengelernt, der beispielsweise auch Priesterinnen ausbildet, was sonst unüblich ist. Er hat auch erreicht, dass in der Schweiz Asche in Flüssen verstreut werden darf. Ein anderer Priester, dessen seine Frau in Deutschland starb, ließ sich in hinduistischen rituellen Praktiken ausbilden. Heute begleitet er hinduistische Familien in Deutschland und anderen Ländern im Todesfall, teilweise auch bis zur Bestattung in den Niederlanden, die viel offener zur Umsetzung der Rituale stehen. 

In vielen Bestattungspraktiken sind nicht nur religiöse, sondern vor allem ethnische und regionale Vorstellungen wichtig.

Für dich ist eine gesellschaftspolitische Motivation daraus geworden.

Man sagt, der Tod sei der Gleichmacher, weil wir alle durch denselben Prozess gehen müssen. Aber wie man ihn erlebt, ist sehr individuell und auch politisch geprägt. Wer hat Zugang zu guter Begleitung? Das ist normalerweise die gesellschaftliche Oberschicht, ob es jetzt Klasse oder Kaste heißt. Mich interessiert, wie marginalisierte Gruppen in Deutschland bestattet werden, und wie sie das Bestattungssystem hier erleben. Deutschland ist auf dem Weg, wie in anderen Ländern, dass es keine gesellschaftlichen Mehrheiten, keine homogenen Gruppen, mehr gibt. Diese Realität haben wir heute schon in vielen Großstädten und den jüngeren Generationen in Deutschland. Trotzdem wird in der Öffentlichkeit ein Bild gezeichnet, das Migrant_innen und Geflüchtete an den Rändern positioniert. Das Bestattungssystem ist sehr westlich und christlich dominiert. Viele weiße deutsche Personen und Institutionen halten an ihrer Macht im Bestattungswesen fest, und das, obwohl wir so viel voneinander lernen könnten. Dieser Austausch würde allen Menschen helfen. Vielleicht ist die Antwort auf diese unterschiedlichen Bedürfnisse gar nicht kulturell oder multikonfessionell, sondern einfach multifunktional zu denken– also Räumlichkeiten und Leistungen anzubieten, in denen die Menschen frei und selbstbestimmt ihre Abschiede gestalten können. 

Fühlst du dich in Bezug auf die Bestattung deines Vaters nun schon besser vorbereitet?

Nach der Erfahrung mit meiner Oma war es sehr schwierig, mit ihm über dieses Thema zu sprechen. Aber ich habe ihn zumindest gefragt, ob er mir zeigen kann, wo seine Dokumente sind. Und er merkt schon, dass er mir da auch entgegenkommen muss, damit ich eines Tages nicht von der ganzen bürokratischen Last zusätzlich zur Trauer überwältigt werde. Für viele ist der Kontakt mit der Religion zu Lebzeiten sehr beschränkt oder sie kamen wenig damit zu tun, aber zur Bestattung wird sie dann so wahnsinnig elementar. In mir regt sich Widerstand gegen dogmatische Ansagen, denn es wird weltweit in Religionen auch viel Machtmissbrauch betrieben. Daher werde ich versuchen, eine eigene Form zu finden. 

Und deine eigene Bestattung?

Je mehr ich mich damit beschäftige, umso komplizierter wird es (lacht). Weil ich erlebe, wie wichtig ein guter Abschied für die Hinterbliebenen ist. Für meine Mutter ist die Verbrennung eine schreckliche Vorstellung. Für meinen Vater ist eine Erdbestattung undenkbar. Ich bin also zwischen den Polen aufgewachsen und möchte meine Vorstellungen niemandem aufzwingen, wenn es ihnen in der Trauer schaden könnte. Mir ist es wichtig, dass ich mit den Menschen darüber spreche und mich konstant damit auseinandersetze. Es wird definitiv ein Mix werden, mit vielen Ritualen. Und alle sollen sich so ausdrücken, wie sie es wollen. Eine Playlist habe ich aber schon! 

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