• Gedanken

Wer will ich gewesen sein?

Wie wir über das Erinnern herausfinden, was von uns bleibt.

„Als Schauspieler spiele ich ungern mich selbst. Ich will ja in eine Figur schlüpfen, dann bin ich emotional geschützt. Das hatte ich bei meiner eigenen Trauerrede nicht. Da ging’s nur um mich.“ Das sagt Christian Stock. Laut der Medienfachzeitschrift HORIZONT ist er Deutschlands meistgebuchtes Werbegesicht. Er selbst bezeichnet sich gern als Gesichtsverleiher oder sprechendes Requisit. Dann ein ungewöhnlicher Auftrag: Die Trauerrednerinnen Mel Breese und Carina Fritz möchten ihn für einen Imagefilm für ihre Agentur WER DU WARST gewinnen. Die Idee: Stock soll vor der Kamera seiner eigenen Trauerrede zuhören. Die vorher mit Hilfe von seiner Mutter und engen Freunden so geschrieben werden soll, als sei er tatsächlich gestorben. „Ich habe am Anfang echt überlegt: Machst du das? Und: Können wir nicht jemand Fiktives nehmen? Ich muss zugeben, ich habe das erst mal vor mir hergeschoben. Aber ich fand das Projekt irgendwie spannend.“ Im Vertrauen darauf, dass die Menschen um ihn herum schon das ‚Richtige‘ über ihn erzählen würden, sagt er schließlich doch zu. Und bereut es nicht. „Als ich den Film gesehen habe, habe ich schon ein paar Tränen verdrückt, auch noch beim zwölften Mal. Ich konnte mich eigentlich mit allem identifizieren, was da gesagt wurde. Deswegen geht es einem ja auch so nah. Weil es wahr ist.“

So etwas hört Mel Breese gern, die damals die Gespräche mit seinem engsten Kreis führte. „Unsere Fragen sollen die Erinnerungen anregen. Was waren seine Leidenschaften und Hobbies, was seine Ecken und Kanten? Natürlich ist eine Trauerrede immer in erster Linie eine Laudatio, aber uns ist es auch wichtig, die ganze Persönlichkeit abzubilden. Und dafür darf man auch mal fragen: Was hat euch an Christian genervt?“ Viel scheint es nicht gewesen zu sein, wie man dem Imagefilm entnehmen kann. Für Christian Stock war es ein Privileg, seine Laudatio schon zu Lebzeiten zu hören. Er wirkt sortiert und überaus erfreut über die Erfahrung. Es scheint auf den ersten Blick ungewöhnlich, sich als relativ junger Mensch damit zu beschäftigen, welche Erinnerungen und Gefühle von einem übrig bleiben werden, welches emotionale Vermächtnis. Beim Thema Trauerrede wird er nun in Zukunft immer an die eigene denken und vielleicht auch daran, was seiner Rede hinzugefügt werden müsste, im weiteren Verlauf seines Lebens. Für Mel Breese ein wertvoller Prozess. 

Wenn es um den Nachlass geht, machen sich die meisten Menschen über vieles Gedanken, aber selten emotional oder inhaltlich.

Manchmal finden wir persönliche Zitate im Vermächtnis, wie der Verstorbene über große Ereignisse oder das Leben an sich gedacht hat. Das hilft uns im Speziellen natürlich für die Rede weiter, aber für die Zugehörigen hat das einen schier unschätzbaren Wert. Herbert Feuersteins Nachruf auf sich selbst kann einem da in den Sinn kommen. Oder Omas Briefe an ihre Enkel, zu öffnen am 18. Geburtstag oder am Tag der Hochzeit. Je länger ich den beiden zuhöre, umso überzeugter bin ich: Wir alle sollten uns der eigenen Essenz zu Lebzeiten nähern. Auch wenn viele sich und ihre Identität (Wer bin ich?) stark reflektieren, bleibt eine große Frage oft auf der Strecke: Wer will ich gewesen sein? 

In der ARD-Reportage ‚Was von mir bleibt‘ bearbeitet ein todkranker Mann einen Stein, der ihn und sein Leben später auf seinem Grab zusammenfassen soll. Sein behandelnder Arzt, Chefarzt der Onkologie in Ravensburg Prof. Dr. Günter Wiedemann, hat ihn dazu ermutigt. Wiedemann, selbst auch Bildhauer, beschreibt diese Arbeit so: „Man haut erst mal irgendwo eine Lücke rein und dann schaut man weiter. Mit jedem Schlag gibt es ein neues Bild, eine neue Form. Da findet parallel eine innere Auseinandersetzung statt. Es ist eine meditative Arbeit und gleichzeitig ein Erlebnis mit allen Sinnen. Du darfst dir nicht erlauben, abgelenkt zu sein.“ In dem Moment, wo man etwas in Stein meißele, sei das für die Ewigkeit und habe eine persönliche sowie kulturelle Bedeutung. Da ginge es, laut Wiedemann, nicht um intellektuelle Kunst, sondern einzig und allein um den Lebensbeweis, das Manifestieren der eigenen Existenz.

„Wir geben den Patienten mit, sich die Sache von allen Seiten anzugucken, sich nicht zu früh festzulegen, und dass es nicht nur um die Oberfläche, sondern auch um die Tiefe geht. Wie im Leben auch.“
Der Patient in der Reportage, zu Drehbeginn mit einer prognostizierten Lebenserwartung von sechs Wochen, lebte übrigens noch dreieinhalb Jahre. Sicher auch ein Ergebnis der furchtlosen Auseinandersetzung. „Er schämte sich ein bisschen“, so Wiedemann, „dass er nicht tot war, als der Stein fertig war. Also machte er einen zweiten.“

Für viele war der Gedanke eines Requiems abwegig.

Bernhard König hat Menschen in ähnlichen Lebensphasen begleitet – in Zeiten, zu denen klar war: Der Tod ist absehbar. Der Musiker wurde unter anderem von einer Stiftung in ein Hospiz geschickt, um die Lebensmusik von Sterbenden zu komponieren. Die experimentellen Klänge, die er gemeinsam mit den Menschen dort entwickelte, sollten ihr Leben und Sterben und manchmal auch das, was danach kommt, ausdrücken. „Für viele war der Gedanke eines Requiems abwegig“, erzählt König. „Wir haben uns dann auf die Suche nach erinnerten Liedern gemacht.“ Entweder wurde die ewig vergrabene Geige wieder ausgepackt oder es wurden große Lebensthemen und Episoden reflektiert. In dem biografischen Kontext konnten dann Lieder gesucht werden, die mit Erinnerungen verknüpft sind. „Es geht darum, Erzählroutinen zu durchbrechen“, meint König. „Nicht um die Geschichten, die man schon hundertmal erzählt hat.“ Durch Musik aktivieren wir oft eine andere Schicht des Erinnerns, die uns dann wirklich berührt. Dabei solle man sich vor allem davon freimachen, wie Trauermusik zu klingen habe, so König. „Die albernsten Schlager meines Lebens habe ich im Hospiz gesungen. Wenn es biografisch gerechtfertigt ist, kann man auf einer Beerdigung auch ‚Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei‘ singen.“

Auch Geschmäcker und Gerüche vermögen es, überdeckte Erinnerungen zu reaktivieren. Was wäre wohl der eine Duft, der uns als Menschen zusammenfassen würde? Welche Gerüche haben immer schon eine wichtige Rolle im jeweiligen Leben gespielt? Welche verbinden wir mit unserer Mutter oder dem Vater? Oder mit einer vergangenen Liebe? Nicolas Cloutier, Gründer des Beauty Concept Stores Nose Paris, der individuelle Düfte kreiert und kuratiert, erzählt: „Duft ist immer auch Nostalgie. Wenn wir einen speziellen Duft einmal mögen, werden wir immer von ihm angezogen sein. In meinem Fall sind es rauchige Gerüche und Patchouli. Beides hängt mit intensiven Kindheitserinnerungen zusammen. Lieder ums Lagerfeuer mit der Familie in Kanada oder das Moos im Wald drum rum, so riecht Patchouli. Ich wähle immer Düfte, die mich daran erinnern“. Auch zum Lebensende werden Düfte vermehrt eingesetzt – oft zu beruhigenden Zwecken, zum Beispiel als Teil einer Massage. Gut, wenn man zu dem Zeitpunkt bereits weiß, was dieser Lebensduft für einen ist und warum. Es wäre eine weitere Möglichkeit, Erinnerungen aufleben und andere daran teilhaben zu lassen. 

Welches Objekt hat die höchste Symbolkraft für ein Leben?

Darum geht es auch Henny Willems mit ihren Totenkleidern. Die niederländische Designerin und Künstlerin hat besondere Kleider mit Taschen entwickelt, die in der Sterbensphase, aber auch ohne besonderen Anlass wie ein generelles Memento Mori, im Zimmer aufgehängt werden können. Freunde und Familie können so kleine Erinnerungsstücke – vielleicht Gedichte, Bilder und kleine Andenken – hinterlassen und so zusammen die Essenz dieses Menschen formen, ein bisschen wie eine Trauerrede zum Anfassen. Willems verschickt auch Anleitungen zum Schneidern des eigenen Totenhemds.  Wie würde das wohl aussehen? Und was für einen Sarg würde man sich bauen lassen, wenn man in Ghana beerdigt würde? Dort werden die Menschen oft in figürlichen Särgen bestattet, die auf Charakter, Beruf oder Vorlieben Bezug nehmen. Und vielleicht in nächster logischer Instanz: Was würde man in den Sarg mit hineinnehmen? Ob man nun an eine andere Seite glaubt oder nicht: Welches Objekt hat die höchste Symbolkraft für ein Leben?

Der Fotograf Andreas Reiner erzählt von einem Mann, den er auf dessen Wunsch tot mit seiner Sargbeigabe fotografierte: einem 64 Jahre alten Stück Brot. Seine Mutter hatte es ihm einst mit auf den Weg gegeben. Als ehemaliger Kriegsflüchtling sollte er nie wieder Hunger leiden. Nach einer Krebsdiagnose und einem ansonsten aber guten Leben fiel ihm das fast vergessene Andenken wieder ein. Er ging mit dem Wunsch, seiner Mutter das Brot zurückzugeben, sollte er sie wiedersehen. Seine Bestatterin war der erste Mensch, dem er davon erzählte.

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