• Perspektiven

Das Schlimmste und das Schönste

Wie tiefster Schmerz und unerwartete Schönheit Hand in Hand gehen können – und uns lehren, das Leben in all seinen Facetten zu sehen.

Triggerwarnung: In diesem Text spielt Suizid eine Rolle.
Eine Erzählung von Barbara Rolf.

Wenn ich in Schulklassen bin, um mit Kindern oder Jugendlichen über Tod und Bestattung zu sprechen, tauchen Fragen auf, die regelmäßig wiederkehren. Eine davon lautet: „Was war das Allerschlimmste, das Sie als Bestatterin erlebt haben?“ Und eine andere: „Was war das Schönste, das Sie als Bestatterin erlebt haben?“ Tatsächlich liefert ein und dieselbe Geschichte die Antwort auf beide Fragen. Denn das Schlimmste hält das Schönste an der Hand. Das hat sich für mich so oft bewahrheitet, sowohl in meinem beruflichen wie in meinem persönlichen Leben, dass ich eine These daraus ableite: Auf diese Weise hält das Leben die Balance. Je tiefer wir fallen, umso größer sind die Schätze, die wir entdecken können. Ich traue mich nicht zu behaupten, dass diese Aussage allgemeingültig ist. Und es gibt auch Dinge, die ich nie erleben oder miterleben musste. Nichts liegt mir ferner als billiger Trost oder Verharmlosung von Schmerz und Leid. So kann dies einzig eine Beobachtung sein, die ich in Bezug auf mein eigenes Erleben gemacht habe und von der mir auch andere Menschen in Bezug auf ihre Erfahrungen berichteten. Von einer Begebenheit möchte ich hier erzählen, die das für mich wie keine andere auf den Punkt bringt.

Ein Mann hatte innerhalb eines Tages seine Frau und sein Kind verloren. Der sechs Wochen alte Junge war am plötzlichen Kindstod gestorben. Seine Mutter nahm sich wenige Stunden später das Leben, indem sie von einem Hochhaus sprang. Der Ehemann und Vater hatte den Wunsch, dass die beiden zusammen in einen Sarg gelegt werden. Ich fragte ihn, ob er dabei sein wolle, wenn das geschieht. Er schien mit dieser Frage und Option nicht gerechnet zu haben und schaute mich eine Weile einfach nur an. Die Angehörigen, die ihn zu dem Gespräch begleitet hatten, waren entsetzt und rieten ihm inständig ab. Ich verstand ihre Sorge. Doch ich wusste, dass er die für sich richtige Antwort finden würde. Er fragte: „Sind Sie dann dabei?“ „Ja, auf jeden Fall. Sie müssen auch nichts tun, was Sie nicht tun wollen und können sich jederzeit anders entscheiden.“ „Könnte ich den Kleinen nochmals anziehen? Das habe ich immer so gern gemacht.“ „Ja.“ „Ok, ich bin dabei, wenn Sie dabei sind. Das mache ich.“ Später besprachen wir noch, dass er persönliche Sachen für die beiden mitbringen würde, Kleidung, Bettzeug und Beigaben für den Sarg. Außerdem vereinbarten wir, dass wir seine Frau vorversorgen würden, zumal ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, wie sich der Sprung auf ihren Körper ausgewirkt hatte. Sie würde, wenn er kommt, schon im Sarg liegen. Soweit möglich, würden wir sie gemeinsam einkleiden, frisieren und eincremen. Er würde das Kind anziehen und ihr in die Arme legen. 

Wir können nicht entscheiden, was Menschen für ihr Begreifen und ihre Auseinandersetzung brauchen und was nicht.

Der Zustand der Verstorbenen war für die Todesumstände sehr gut. Sie sah friedvoll aus, das Baby auch. Das half natürlich sehr, dennoch hatte ich großen Respekt vor der gemeinsamen Versorgung. Wenn es schon ein wenig über meine Kräfte ging, wie sollte es erst für ihn sein? Er kam mit einer Riesenmenge an Sachen von zuhause und sagte mit dem Anflug eines Lächelns: „Ich konnte mich nicht entscheiden. Wir schauen, wieviel reinpasst.“ Er begrüßte seinen Sohn, den wir für die Einkleidung auf einen Tisch mit weißem Tuch gelegt hatten. Dann ging er zu seiner Frau, betrachtete sie, berührte sie sanft und sagte ihr, dass alles ok sei und er sie verstehen würde. Dann wollte er ein bisschen sehen und nachvollziehen, was durch den Sprung mit ihrem Körper geschehen war. Er tastete vorsichtig Brüche und Hämatome, die ich zu seiner Schonung abgedeckt hatte. Da verstand ich einmal mehr, dass nicht wir entscheiden können, was Menschen für ihr Begreifen und ihre Auseinandersetzung brauchen und was nicht. Wir kleideten sie ein und versorgten sie. Dann wandte er sich seinem Sohn zu und zog ihn ganz langsam an, manchmal lächelnd. Er sagte, er habe das immer geliebt, obwohl alles noch so winzig ist, und er Angst hatte, etwas kaputt zu machen. 

Als er fertig war, fragte er mich, ob er ihn jetzt hochnehmen und zu seiner Frau legen dürfe. Ich nickte und konnte die Tränen nicht zurückhalten, als er das tat. Er korrigierte nochmals sorgfältig die Lage des Köpfchens und der Hände. Dann begann er, die Sachen von zu Hause auszupacken. Eine bunte Kuscheldecke, ein Windspiel, Spielzeug des Kindes und alles Mögliche, woran kostbare Erinnerungen hingen. Er erzählte zu allem ein bisschen und schmückte den Sarg üppig und mit viel Liebe zum Detail. Die Schönheit des Bildes, das sich bot, als er fertig war, entsetzte mich. Als er sich verabschiedete, sagte er: „Das hier… Das war das Schrecklichste und das Schönste, was ich in meinem ganzen Leben gemacht habe.“  

Das hier… Das war das Schrecklichste und das Schönste, was ich in meinem ganzen Leben gemacht habe.

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